Contenance!

Letzte Woche habe ich einen neuen Tiefpunkt im Parlament erlebt. Nicht nur inhaltlich. Wo ist bloss die Contenance geblieben? Seit den Wahlen ist die Stimmung gereizt, was auch mit der neuen Grösse der SVP und ihrem Verhalten zusammenhängt.

Der Nationalrat hat diese Woche eine Erklärung zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bezüglich der Beschwerde der Klimaseniorinnen angenommen. Eine Erklärung geben Parlamente bei «wichtigen Ereignissen oder Problemen der Aussen- oder Innenpolitik» ab. Da sind wir beim Thema: Es geht um Politik. Es ist staatspolitisch bedenklich, wenn die Legislative einen Gerichtsentscheid mit den Worten kommentiert, die Schweiz sehe «keinen Anlass, dem Urteil des Gerichtshofs vom 9. April 2024 weitere Folge zu geben», weil mit den bisherigen klimapolitischen Bestrebungen der Schweiz «die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils erfüllt» seien.

Das ist erstens inhaltlich falsch, zweites ist dies kein Grund, dem Gerichtshof die demokratische Legitimation abzusprechen. Wir haben zum Glück die Gewaltentrennung, die uns weit gebracht hat. Natürlich können Gerichtsurteile kritisiert werden. Die Bevölkerung wird wie immer das letzte Wort haben. Aber nicht in Form einer Parlamentserklärung. Das schadet unseren Institutionen.

Im Saal debattierte also der Nationalrat auf unterstem Niveau. Draussen in der Halle ignorierte der Fraktionschef der SVP, Thomas Aeschi, die Anweisungen der Bundespolizei. Es kam sogar zu einem Handgemenge! Wo sind wir denn? Wo ist der Anstand geblieben? Wenn etwas der SVP nicht passt, dann akzeptieren sie weder Gerichtsurteile noch polizeiliche Anweisungen?

Das wirklich wichtige Ereignis jenes Tages war übrigens der Besuch des ukrainischen Parlamentspräsidenten Stefantschuk, der uns einen direkten Einblick gegeben und seine Erwartungen und Wünsche mitgegeben hat. Aber Inhalte sind anscheinend nicht mehr erwünscht. Mehr Contenance wäre jedoch wirklich angebracht – in jeder Hinsicht.

(Dieser Artikel ist in ähnlicher Form als Kolumne im Sonntagsblick erschienen.)