«Pfisters Mathematik geht nicht auf»

Ich habe mit CH Media über die Bundesratsambitionen und die Haltung der grünen Fraktion gesprochen (der Artikel findet sich hier).

Christoph Bernet: In der «Schweiz am Wochenende» hat Mitte-Parteipräsident Gerhard Pfister den Grünen «strategisches Versagen vorgeworfen». Haben Sie den Einzug in den Bundesrat verbockt?

Aline Trede: Ich bin erstaunt, wie viele bürgerliche Politiker sich derzeit als strategische Berater für die Grünen bewerben (lacht). Doch die Behauptungen halten einer Überprüfung nicht stand.

Warum nicht? Ein Angriff auf den frei werdenden SP-Sitz hätte gute Chancen gehabt.

Die von Pfister und anderen ins Spiel gebrachte Mathematik geht schlicht und einfach nicht auf.

Können Sie das vorrechnen?

Angenommen, wir hätten die Unterstützung von Mitte und GLP gehabt – die nach unserer Verzichtserklärung mitteilten, sie wären bereit gewesen, eine grüne Kampfkandidatur ernsthaft zu prüfen – selbst dann hätte es immer noch die Unterstützung der FDP-Fraktion gebraucht, um auf Kosten der SP in den Bundesrat einzuziehen. Doch sowohl die FDP wie auch die SVP haben schon lange klargemacht, dass sie den Anspruch der SP auf zwei Sitze nicht bestreiten. Das zeigt: Die angeblich «historische Chance», die wir nun verpasst haben sollen, ist eine nachträgliche Erfindung von anderen Parteipräsidenten.

Mit Ueli Maurer (SVP) und Simonetta Sommaruga (SP) haben die beiden amtsältesten Bundesratsmitglieder ihren Rücktritt angekündigt. Damit muss man rechnen. Doch Ihre Partei wirkte schlecht vorbereitet.

Wir haben das Szenario einer SP-, SVP- oder -Doppelvakanz durchgespielt. Nach Ueli Maurers Rücktrittserklärung haben wir in Ruhe intern und mit anderen Parteien das Gespräch gesucht und uns dann gegen eine Kampfkandidatur entschieden, weil sie aussichtslos gewesen wäre. Ein Jahr vor den Gesamt- erneuerungswahlen wollten wir keine Ressourcen für ein abgekartetes Spiel verschwenden. Dass wir während dieser Legislatur keinen SP-Sitz angreifen werden, hatte die Fraktion bereits entschieden.

Fehlt es den Grünen am Willen zur Macht?

Uns Grünen geht es um Inhalte. Wir sind hier im Bundeshaus, um das Leben auf diesem Planeten zu retten, eine lebenswerte Zukunft für alle zu ermöglichen und Veränderungen anzustossen. Die Macht um der Macht willen interessiert uns nicht. Im Bundesrat könnten wir uns aber genau für diese Inhalte einsetzen und Verbesserungen erzielen.

Als sie den Verzicht auf eine Kandidatur für den SVP-Sitz bekannt gegeben haben, beklagten Sie ein «abgekartetes Spiel» des «Machtkartells der Bundesratsparteien». Weshalb sollte dieses Machtkartell die Grünen nach den Wahlen 2023 in den Bundesrat lassen?

Seit den Wahlen 2019 sind so wenige Wählerinnen und Wähler im Bundesrat vertreten wie noch nie seit der Einführung der ursprünglichen «Zauberformel» 1959. Aber es gibt kein definitives System. Wir haben aktuell eine Diskordanz und keine Konkordanz. Bestätigen die ökologischen Kräfte ihr Ergebnis bei den nächsten Wahlen noch einmal zu, wovon ich ausgehe, dann wird dieses Missverhältnis noch stärker. Wer sich zum Ab- bild des Wählerwillens bekennt, der kann den Wählerwillen bei der Zusammensetzung des Bundesrats nicht einfach ignorieren.

Amtierende Bundesratsmitglieder wählt man in der Schweiz kaum ab. Das ist laut Pfister auch Haltung der Mitte. 2023 zeichnen sich keine Vakanzen ab – wenn, am ehesten beim SP-Sitz von Alain Berset. Wie wollen die Grünen den Sprung in den Bundesrat schaffen?

Gesamterneuerungswahlen heissen nicht umsonst Erneuerungswahlen. Mit Bundesratsrücktritten während der Legislatur wird leider immer wieder versucht, den Spielraum des Parlaments bei der Zusammensetzung des Bundesrats einzuschränken. 70 Prozent aller Rücktritte seit 1950 erfolgten während einer Legislatur. Das ist stossend. Doch ewig kann man den Besitzstand im Bundesrat auch mit taktischen Rücktritten nicht sichern. Wenn der Druck zu gross wird, dann ist auch die Abwahl von amtierenden Regierungsmitgliedern kein Tabu. Das mussten Gerhard Pfister und seine CVP 2003 bei der Abwahl von Ruth Metzler auf traumatische Weise erleben.

Das Problem der Grünen ist: Sie wollen keinesfalls auf Kosten der SP in den Bundesrat. Aber einen dritten Sitz für das linke Lager wird die bürgerliche Parlamentsmehrheit nie zugestehen.

Das sehe ich anders. So wie Mitte-Chef Gerhard Pfister die Konkordanz interpretiert, ist der Anspruch der FDP auf den zweiten Sitz derzeit am schwächsten legitimiert. So wie FDP-Chef Thierry Burkart sie interpretiert, ist der Anspruch der Mitte als nach Wähleranteil fünftstärkste Partei auf ihren einzigen Sitz nicht legimitiert. Eine der beiden Parteien wird sich auf die Grünen zubewegen müssen, um ihre eigenen Sitze zu retten.

Sie glauben, Mitte oder Freisinn werden freiwillig das rot-grüne Lager stärken?

Derzeit hat der rechtsbürgerliche Block aus FDP und SVP mit 42 Prozent Wähleranteil im Bundesrat eine absolute Mehrheit von vier von sieben Sitzen. Das ist ein deutlich stärkeres Missverhältnis, als es zwei Sitze für die SP und einer für die Grünen wäre. Aber ganz allgemein gesprochen: Das Konkordanzsystem, die Einbindung aller wesentlichen Kräfte gemäss ihrer Wählerstärke, ist in der Bevölkerung stark verankert. Wer das aus kurzsichtigem Parteiinteresse zu lange ignoriert, der wird von den Wählerinnen und Wählern bestraft.

Zur Wählerschaft: Laut Umfragen könnten die Grünen bei den nächsten Wahlen verlieren. Das wäre Gift für die Bundesratspläne.

Es ist klar: Der Sitz wird uns nicht geschenkt werden. Dafür müssen wir ein starkes Ergebnis machen. Ich bin überzeugt, dass uns das im nächsten Jahr gelingt. Aber es geht bei den Wahlen 2023 nicht in erster Linie um einen Bundesratssitz für die Grünen, sondern um die riesigen Herausforderungen wie die Klimakrise. Dafür müssen wir Mehrheiten verschieben, sowohl im Bundesrat als auch im Parlament.

An welche Mehrheiten denken Sie?

Angesichts der Klimadringlichkeit und des Aufholbedarfs in der Europa- und Gesellschaftspolitik müssen wir mittelfristig eine progressive Mehrheit aus Grünen, SP und GLP anstreben. Mit diesen Parteien werden wir sicherlich auch besonders intensive Gespräche im Hinblick auf die Gesamterneuerungswahl des Bundesrats führen. Und jetzt freue ich mich darauf, dass wir uns wieder zusammen den Lösungen für die aktuellen Probleme widmen.